Wenn keiner mehr bleibt – Die Angst vorm Altwerden ohne tragendes Netz

22.06.2025

Es gibt unter schwulen/queeren Männern eine stille Sorge, über die sie aber nicht sprechen: Die Angst, im Alter vollkommen alleine zu sein.

Erfolg, Freiheit, Selbstbestimmung, viele queere Männer zwischen 30 und 60 haben sich ein Leben aufgebaut, das sie früher vermutlich selbst nicht für möglich gehalten haben. Trotzdem lässt viele von ihnen in ruhigen Momenten eine Frage nicht in Ruhe, die sich nur schwer verdrängen lässt:

"Was, wenn ich im Alter allein bin?"

Diese Angst ist weder hysterisch noch überflüssig, weil sie ganz real ist. Denn viele queere Biografien verlaufen anders als das klassische Familienmodell. Es fehlen oft eigene Kinder, sichere Partnerschaften oder ein stabiles familiäres Umfeld. Gleichzeitig gibt es immer noch zu wenig queersensible Angebote in den Bereichen Pflege, Wohnformen oder psychosoziale Betreuung.

In diesem Beitrag möchte ich mit dir genauer hinschauen. Was steckt hinter dieser Angst? Warum betrifft sie so viele? Und was kannst du tun, um dich früher als später mit ihr auseinanderzusetzen, aber ohne dich von ihr lähmen zu lassen?

Warum diese Angst gerade bei queeren Männern so verbreitet ist

Viele queere Männer haben in ihrer Biografie Brüche erlebt: Ausgrenzung in der Jugend, Konflikte mit der Herkunftsfamilie, nicht gelebte Beziehungen oder (was sehr häufig vorkommt) späte Coming-outs. Mein eigenes fand zum Beispiel erst im Alter von 40 Jahren statt. Viele Männer haben sich oft ein starkes, unabhängiges Leben aufgebaut, mussten dafür aber oft einen hohen Preis zahlen: Bindungsverletzungen, Beziehungsabbrüche, Isolation.

Die gesellschaftliche Sichtbarkeit queerer Männer sinkt mit dem Alter. Was mit 30 noch cool und frei wirkte, wird mit 55 oft als "einsam" gelesen, sowohl von den Männern selbst als auch von anderen. Dabei ist es weniger die fehlende Beziehung, die Angst macht, sondern die fehlende Verbindlichkeit.

Was konkret fehlt: Bindung, Struktur, Versorgungssicherheit

Die meisten Menschen bauen im Laufe ihres Lebens Bindungsnetze aus Familie, Kindern, langjährigen Partnerschaften, Schwiegerverwandtschaften, Enkeln oder Nachbarn auf. Queere Männer haben solche Strukturen oft nicht im selben Umfang oder sie sind brüchiger.

Wenn dann noch gesundheitliche Fragen oder Pflegebedürftigkeit dazukommen, wird die Lücke sichtbar: Wer begleitet dich ins Krankenhaus? Wer besucht dich, wenn du nicht mehr selbst mobil bist? Wer streitet für deine Bedürfnisse, wenn du es selbst nicht mehr kannst?

Hinzu kommt, dass immer noch zu viele Pflegeeinrichtungen nicht queersensibel sind. Wer sich im Leben schützen musste, will im Alter nicht wieder in Angst leben. Und so schieben viele das Thema vor sich her, immer in der Hoffnung, dass es schon irgendwie gut gehen wird.

Die Folge: Verdrängung statt Vorbereitung

Über das Altwerden sprechen die wenigsten gern, ich auch nicht. Erst recht nicht über das alleine Altwerden. Aber Verdrängung schafft keine Sicherheit. Sie kostet Kraft, auch wenn sie scheinbar entlastet.

Viele queere Männer halten ihren Alltag souverän zusammen. Karriere, Reisen, Freundeskreis. Aber der Gedanke, irgendwann allein im Pflegeheim zu sitzen, ohne Besuch, ohne Vertraute, löst tiefe Verunsicherung aus. Und diese Angst bleibt auch, wenn sie verdrängt wird.

Was du tun kannst: Verbindung schaffen, bevor du sie brauchst

Statt einfach stur zu warten, kannst du schon heute anfangen, tragende Netze aufzubauen. Nicht aus Angst, sondern aus Selbstfürsorge.

  • Wahlfamilien pflegen: Wer sind die Menschen, mit denen du ehrlich sein kannst? Wer wäre bereit, Verantwortung für dich zu übernehmen, und du für sie?
  • Wohn- und Lebensmodelle hinterfragen: Muss es für immer das Single-Apartment sein? Welche alternativen Wohnformen wären denkbar? Mehrgenerationenhaus, Wohngemeinschaft?
  • Pflege rechtzeitig planen: Gibt es Einrichtungen, die queerfreundlich sind? Hast du deine Vollmachten geregelt?
  • Gespräche führen: Nicht erst, wenn es akut wird. Sprich rechtzeitig mit Freund*innen über das, was du dir wünschst und was du fürchtest.

Die Rolle von Männerbildern und Scham

Viele Männer sprechen nicht über Einsamkeit, sie zeigen keine Angst und sie halten sich für selbstgenügsam oder stark. Das ist aber oft gelerntes Verhalten. Gerade schwule Männer haben Strategien entwickelt, um nicht verletzbar zu wirken.

Aber was ist stärker: Der Drang, sich zu verstecken? Oder der Wunsch, sich zu zeigen?

Es braucht Mut, sich einzugestehen: "Ich habe Angst davor, allein alt zu werden." Es braucht Vertrauen, um so etwas auszusprechen. Aber genau das ist der Moment, in dem Verbindung wieder möglich wird.

Lebensfreude trotz Angst: Wie du dein Jetzt stärken kannst

Die Angst vorm alleine Altwerden ist real. Aber sie braucht dich nicht lähmen. Sie kann nämlich ein Kompass sein, der dir zeigt, wie du dich heute anders ausrichten musst:

  • Pflege deine Beziehungen aktiv, nicht nebenbei
  • Erlaube dir, nicht nur stark, sondern auch bedürftig zu sein
  • Lass Oberfläche los und investiere in Tiefe
  • Mach dir bewusst, dass du dir ein Leben schaffen darfst, das dich auch dann trägt, wenn du schwach bist

Fazit: Du bist nicht allein mit deiner Angst – aber du bist verantwortlich für das, was du daraus machst.

Queeres Altwerden muss nicht in Isolation enden. Es braucht Sichtbarkeit, neue Modelle, ehrliche Gespräche und Menschen wie dich, die sich trauen, früher hinzuschauen.

Du musst dich nicht perfekt absichern. Aber du solltest dich zumindest fragen: "Was brauche ich, um mich sicher zu fühlen? Und mit wem will ich alt werden?"

Wenn du merkst, dass dich diese Fragen bewegen: Sprich mit mir. Nicht, weil ich die passenden Antworten habe, sondern weil ich dir einen Raum geben kann, in dem du sie selbst findest.


Christian Schultze
Lebensberatung für queere Männer mit Tiefgang